EU-Gutachten sieht keine Entschädigungspflicht bei Streiks
Nach Auffassung von Generalanwalt Priit Pikamäe stellt ein von Pilotengewerkschaften organisierter Airline-Streik grundsätzlich einen außergewöhnlichen Umstand dar, aufgrund dessen die Fluggesellschaft der Entschädigungspflicht bei Flugausfällen und Verspätungen befreit sein kann. Voraussetzung sei, dass die Airline alles getan habe, um das Malheur abzuwenden.
Hintergrund für den Fall, der vor dem Europäischen Gerichtshof gelandet war, ist ein Rechtsstreit zwischen der Fluggesellschaft SAS und dem Fluggastrechte-Portal Airhelp. Dieses fordert im Auftrag eines Kunden eine Entschädigung in Höhe von 250 Euro, weil ein für April 2019 geplanter Flug von Malmö nach Stockholm am selben Tag wegen eines Pilotenstreiks in Norwegen, Schweden und Dänemark annulliert worden war.
Der betroffene Carrier SAS vertritt die Ansicht, er sei nicht verpflichtet, die geforderte Ausgleichszahlung zu leisten, da der Streik einen "außergewöhnlichen Umstand" darstelle, der sich auch dann nicht hätte vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Der Streik der Piloten war durch deren Gewerkschaften organisiert worden, nachdem diese den bisherigen Tarifvertrag mit SAS, der 2020 hätte auslaufen sollen, vorzeitig gekündigt hatten. Verhandlungen über einen neuen Tarifvertrag liefen seit März 2019. Der Streik dauerte sieben Tage – vom 26. April bis zum 2. Mai 2019 – und zwang SAS, mehr als 4.000 Flüge zu annullieren. Davon waren rund 380 000 Fluggäste betroffen. Wenn jeder der Fluggäste Anspruch auf die pauschale Ausgleichszahlung gehabt hätte, hätte dies nach den Berechnungen von SAS Kosten in Höhe von rund 117 Millionen Euro zur Folge.
Für die Fluggesellschaft nicht beherrschbar
Generalanwalt Pikamäe erklärte nun in seinen Schlussanträgen, dass ein Streik, der auf den Aufruf einer Gewerkschaft im Rahmen der Ausübung des Streikrechts durch die Belegschaft der Fluggesellschaft organisiert werde, um eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen einzufordern, einen befreienden "außergewöhnlichen Umstand" darstelle, sofern er nicht durch eine vorherige Entscheidung des Unternehmens, sondern durch die Forderungen der Arbeitnehmer ausgelöst werde. Denn der Streik sei von der Fluggesellschaft tatsächlich nicht zu beherrschen gewesen, weil die Entscheidung dafür außerhalb der Entscheidungsstrukturen der betroffenen Fluggesellschaft liege. Obwohl Streiks zum wirtschaftlichen Leben jedes Unternehmens gehörten, habe dieses keine Kontrolle über die Entscheidungen einer Gewerkschaft.
Die Fluggesellschaft könne für die Folgen kollektiver Maßnahmen der Belegschaft nicht allein verantwortlich gemacht werden, so der Generalanwalt weiter. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass der Ausgleichsanspruch von Fluggästen für Arbeitskämpfe "instrumentalisiert" werde. Ungeachtet dessen habe die Airline alle zumutbaren Maßnahmen ergreifen müssen, um die Annullierung oder große Verspätung eines Flugs zu verhindern. Angesichts der Kapazitäten ihres Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt könnten von ihr aber keine „nicht tragbaren Opfer“ verlangt werden. Sie habe lediglich alle rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, um ihre Interessen und mittelbar die der Fluggäste zu wahren, wenn es etwa um eine Rechtswidrigkeit der Streiks gehe.
Die Schlussanträge des Generalanwalts sind für den Gerichtshof nicht bindend. Die Richter des Gerichtshofs treten jetzt in die Beratung ein. Das Urteil soll zu einem späteren Zeitpunkt verkündet werden; in vielen Fällen folgte das Gericht bislang der Einschätzung des Generalanwalts.