Stuttgarter Bahnchaos: 4.200 Kilometer Sperrungen drohen
Im Südwesten übt der DB-Konzern die Verkehrswende rückwärts. Für Stuttgart 21 werden Nah- und Fernverkehr kurzfristig monatelang lahmgelegt und Pendler ins Auto gezwungen. Die Empörung ist so groß wie einhellig.
Dieter Reicherter nutzt die Bahn aus Überzeugung. Doch in letzter Zeit steigt der frühere Richter am Stuttgarter Landgericht notgedrungen wieder mehr ins Auto. Denn die ICE-Züge der Deutschen Bahn AG kommen nicht selten so verspätet in Stuttgart an, dass die letzte S-Bahn nach Backnang schon weg ist und er am Hauptbahnhof zu stranden droht. Deshalb quält sich Reicherter inzwischen die 50 Kilometer nach Stuttgart mit dem Auto durch den meist dichten Verkehr im Schwabenland – oder er fährt gleich bis nach Frankfurt, weil das am Ende meist schneller geht.
Bald wird der pensionierte Jurist und Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21 gezwungen sein, noch öfter die Straße statt die Schiene zu nutzen. Denn der bundeseigene DB-Konzern will sehr kurzfristig wichtige Pendlerstrecken im Großraum Stuttgart komplett sperren, um die neue digitale Sicherungstechnik ETCS für den neuen Bahnknoten Stuttgart 21 einzubauen. Es werde "größere Behinderungen" für viele Fahrgäste geben, die zunächst die Strecken nach Ulm, Tübingen, Aalen und Schwäbisch Hall betreffen, kündigte Olaf Drescher, Geschäftsführer der DB Projekt Stuttgart-Ulm, an.
"Miserables Management"
Schon ab Mitte April soll die Verbindung nach Waiblingen mindestens 14 Wochen lahmgelegt werden, um 1.200 Kilometer Kabel zu verlegen. Danach geht der zentrale S-Bahn-Innenstadttunnel außer Betrieb, anschließend werden im Winter Verbindungen zum Flughafen und nach Böblingen gekappt. Die Empörung am Neckar ist so groß wie einhellig. Denn von solch massiven Streckensperrungen war zuvor nie die Rede und derartige Eingriffe werden in der Regel mindestens ein Jahr vorher angekündigt, zumal Ersatzverkehre organisiert werden müssen.
Das sei ein "miserables Management des Projekts und der Kommunikation der Bahn", schimpft Baden-Württembergs grüner Verkehrsminister Winfried Hermann. Von einer "ganz bitteren Pille" für Pendler und Bahnfahrer spricht Stuttgarts OB Frank Nopper. Der Verkehrsclub VCD kritisiert, die geplanten Totalsperrungen zeigten, dass den Stuttgart-21-Planern "die Interessen der Fahrgäste völlig egal sind". Ein "Desaster mit Ansage" sieht das Aktionsbündnis und fordert von der Politik, die Sperrungen zu verhindern.
Droht auch bei den Großsanierungen das Chaos?
Für Experten ist das Stuttgarter Bahnchaos ein böses Omen für das riesige Sanierungsprogramm, mit dem der Staatskonzern bis 2030 das marode und viel zu lange vernachlässigte Schienennetz modernisieren will. Bundesweit sollen dafür 43 Streckenabschnitte auf insgesamt 4.200 Kilometern Länge jeweils monatelang komplett gesperrt und der Zugverkehr umgeleitet werden. Zum Start soll eine der meistbefahrenen Bahnstrecken in Europa, die Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim, direkt nach der Fußball-EM im Sommer 2024 monatelang lahmgelegt und generalsaniert werden. 2025 soll die Rennstrecke Berlin-Hamburg folgen.
Droht dann ein völliges Chaos, zumal es an ausreichend leistungsfähigen Umleitungsstrecken mangelt? Bereits das Baustellendesaster der DB Netz AG bei Rastatt mit monatelanger Sperrung der zentralen Rheintalstrecke hatte Milliardenschäden verursacht. Die Zweifel jedenfalls wachsen, ob der DB-Konzern seine Infrastruktur und die Planung noch im Griff hat. Experten wie Matthias Gastel sprechen mit Blick auf Stuttgart von einem Totalversagen der Verantwortlichen.
Stuttgart 21-Bahnknoten wird als Pilotprojekt digitalisiert
Das aus dem Ruder gelaufene Megaprojekt Stuttgart 21 weckt jedenfalls wenig Vertrauen, dass es bei künftigen Großvorhaben besser laufen könnte. Die Kosten des komplizierten Tiefbahnhofs mit fast 60 Kilometern neuen Tunneln im Stadtgebiet haben sich auf mindestens zehn Milliarden Euro vervielfacht, auch der bereits mehrfach verschobene Starttermin Ende 2025 wackelt mal wieder. Ohnehin werden weitere teure Tunnelbauten nötig, die sich wohl bis weit ins nächste Jahrzehnt ziehen werden.
Irgendwann erkannten die wechselnden S 21-Strategen dann auch, dass Kritiker zu Recht frühzeitig vor den begrenzten Kapazitäten warnten, die der in den Untergrund verlegte Bahnverkehr künftig haben wird. Deshalb wurde 2018 überraschend entschieden, den ohnehin hoch komplexen Stuttgarter Bahnknoten als Pilotprojekt auch noch komplett mitsamt des S-Bahnnetzes zu digitalisieren. Weitere fast 700 Millionen Euro für neue Stellwerke, das Leit- und Sicherungssystem ETCS und die Ausrüstung der Züge sind dafür veranschlagt.
Planungsfehler: Bisherige Signaltechnik muss nachgerüstet werden
Das Problem: Bis zum geplanten Stuttgart-21-Start werden noch lange nicht alle Fahrzeuge die digitale Technik an Bord haben. Andere Personen- und Güterzüge oder S-Bahnen könnten die modernisierten Strecken aber nicht mehr nutzen. Deshalb muss nun dort auch die bisherige Signaltechnik mit Kabeln teuer und zeitaufwändig nachgerüstet werden – ein offenkundig schwerer Planungsfehler, den Projektchef Drescher mit der Ausrede zu entschuldigen versucht, der "Vervielfachungseffekt" bei der Verkabelung sei nicht vorhersehbar gewesen.
Auch im Bundesverkehrsministerium dürften die neuen Hiobsbotschaften aus Stuttgart einigen Ärger ausgelöst haben. Denn noch kurz zuvor war Ressortchef Volker Wissing (FDP) mit Journalisten und dem Chef der DB Netz AG, Berthold Huber, vor Ort im ICE auf der Riedbahn unterwegs, um für die heiklen bundesweiten Komplettsanierungen zu werben, die für Bahnreisende und Pendler in den nächsten Jahren zur Nervenprobe werden. Von den Problemen gleich beim ersten digitalen Großprojekt in Stuttgart war da noch keine Rede.
Bewährungsproben auch für Verkehrsminister Wissing
Wissing steht in der Ampelregierung selbst gehörig unter Druck, da Parteifreund und Finanzminister Christian Lindner bisher wenig Bereitschaft zeigt, zumindest einen Teil der zusätzlichen 80 Milliarden Euro im Bundesetat locker zu machen, die der DB-Konzern für die beschleunigte Modernisierung und Digitalisierung der Infrastruktur veranschlagt hat. Zudem ist im Koalitionsvertrag mit SPD und Grünen vereinbart, dass die bisher gewinnorientierte DB Netz AG zu einer am Gemeinwohl orientierten Infrastrukturgesellschaft umgebaut wird.
Zunächst einmal dürfte es allerdings in den nächsten Jahren angesichts der massiven bevorstehenden Einschränkungen schlicht darum gehen, den Bahnverkehr irgendwie halbwegs am Laufen und möglichst viele Reisende auf der Schiene zu halten.
Thomas Wüpper